Die COVID-19-Krise zwingt der Jurist, seine vertraglichen Grundlagen zu überprüfen. Die Verbreitung von Meinungen und Ansichten in sozialen Netzwerken erfordert eine ständige Aktualisierung, um zu verhindern, dass unbegründete Gerüchte oder Grundsätze aus anderen Rechtssystemen in den Köpfen der Praktiker und ihrer Klienten Verwirrung stiften.
Nachdem wir also vor kurzem erfahren haben, dass der Präsident des Handelsgerichts Paris im Stadium der einstweiligen Verfügungen die Auffassung vertreten hat, dass die mit COVID-19 verbundene Gesundheitskrise nach französischem Recht einen Fall höherer Gewalt darstellen könnte, der geeignet ist, die vertraglichen Liefer- und Zahlungsverpflichtungen eines Schuldners gegenüber seinem Vertragspartner auszusetzen (vgl. T. com. Paris, 20. Mai 2020, Total Direct Energie gegen EDF), haben wir uns über die Situation nach Schweizer Recht gewundert.
Das schweizerische Vertragsrecht (Obligationenrecht) enthält keine Definition des Begriffs der höheren Gewalt, betrachtet sie aber als ein ausserordentliches, unvorhersehbares und unüberwindbares äusseres Ereignis, das den Kausalzusammenhang zwischen dem Vertragsbruch und dem durch diesen Bruch verursachten Schaden unterbricht. Da es sich bei der vertraglichen Haftung nach schweizerischem Recht um eine Verschuldenshaftung handelt (Art. 97 OR), kann der Schuldner daher durch den Nachweis des Nichtverschuldens von der Haftung befreit werden, wenn seine Nichterfüllung auf höhere Gewalt zurückzuführen ist.
Aus diesem Konzept folgt, dass ein Fall höherer Gewalt an sich nicht die Unterbrechung einer vertraglichen Verpflichtung zulassen kann (wie in der oben erwähnten französischen Rechtsprechung), sondern nur den Schuldner, der von seiner Haftung für den von seinem Vertragspartner erlittenen Schaden entbindet. Darüber hinaus ermöglicht diese Konzeption eine Befreiung von der Haftung für Nichterfüllung, jedoch nicht von der Haftung für unsachgemäße Erfüllung. Sie erlaubt auch nicht die Vermeidung von Leistungen, wenn die Dienste durch ein Ereignis höherer Gewalt nutzlos geworden sind.
Um die Unzulänglichkeiten des schweizerischen Rechts zu beheben, ist es daher wichtig, in die abzuschliessenden Verträge eine gut durchdachte, dem jeweiligen Fall angepasste Klausel über höhere Gewalt aufzunehmen.
Diese Klausel sollte zunächst definieren, was die Parteien unter höherer Gewalt verstehen. In dieser Hinsicht sollten die Parteien sicherstellen, dass nur eine illustrative Liste von Fällen, die unter diese Definition fallen, aufgenommen wird. Wir empfehlen, Fälle von Pandemie oder Epidemie einzubeziehen. Eine weitere Situation, die unserer Meinung nach ebenfalls in die Liste der Fälle höherer Gewalt aufgenommen werden sollte, sind die internationalen Wirtschaftssanktionen (die in unserem gegenwärtigen politischen Umfeld immer häufiger vorkommen), die beispielsweise den Schuldner einer Dienstleistung daran hindern, sich zur Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen bei Dritten, gegen die ein Embargo verhängt wurde, zu versorgen.
Die Vertragsklausel über höhere Gewalt sollte darüber hinaus nicht nur eine Haftungsbefreiung vorsehen, sondern auch die Folgen der Nichterfüllung, wie z.B. die Setzung einer zusätzlichen Frist für die Leistung des Schuldners, nach deren Ablauf der Vertrag gekündigt werden kann.
Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass die Parteien (insbesondere die kreditgebenden Banken – aber auch die Vermieter) sich systematisch weigern, eine Klausel für höhere Gewalt vorzusehen, die es ermöglicht, den Schuldner im Falle der Nichterfüllung aufgrund höherer Gewalt von der Haftung zu befreien, wobei die Zahlungsverpflichtung auch im Falle einer Pandemie oder eines Embargos stets als „möglich“ erachtet wird.
WILHELM Rechtsanwälte kann Sie bei der Abfassung der Klauseln Ihrer Verträge beraten.
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