Der unabhängige Stimmrechtvertreter hat vor einigen Jahren durch das Türchen der Minder-Initiative und dann durch die Verordnung gegen missbräuchliche Vergütungen von Mitgliedern der Geschäftsleitung und des Verwaltungsrats (VegüV) Einzug in das Schweizer Gesellschaftsrecht gehalten. Die Pandemie und die COVID-Verordnungen haben der Einrichtung neues Leben eingehaucht. Das neue Aktienrecht, das im nächsten Jahr in Kraft treten wird, verspricht, ihm einen prominenten Platz einzuräumen. Tatsächlich ist der unabhängige Vertreter bereits seit Beginn der Pandemie unverzichtbar geworden.
Bis zum sukzessiven Inkrafttreten der verschiedenen Verordnungen über Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19-Verordnungen) war die Rolle des unabhängigen Vertreters auf börsennotierte Unternehmen innerhalb der Grenzen des VegüV beschränkt. Diese sind verpflichtet, einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter zu ernennen, um misstrauischen Aktionären die Möglichkeit zu geben, ihre Stimmen oder Weisungen einer von der Gesellschaft unabhängigen Person anzuvertrauen, um sicherzustellen, dass die von ihnen vertretenen Stimmen oder ihre Weisungen an der Generalversammlung ordnungsgemäss erfasst und verarbeitet werden. Gemäss VegüV muss der unabhängige Stimmrechtsvertreter die Stimmrechte gemäss den von den Aktionären erhaltenen Weisungen ausüben. Bei fehlenden Anweisungen muss er sich der Stimme enthalten. Der unabhängige Stimmrechtsvertreter kann auch bei neuen, nicht traktandierten Verhandlungsgegenständen, aber nur im beschränkten Rahmen von Art. 700 Abs. 3 OR, d.h. bei der Einberufung einer ausserordentlichen Generalversammlung, der Einsetzung einer Sonderprüfung oder der Ernennung einer Revisionsstelle, Aktionäre nach dem VegüV vertreten, wenn die Aktionäre ihn dazu beauftragt haben.
Unsere Erfahrung als unabhängiger Stimmrechtsvertreter hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, diese Fälle bei der Gestaltung des Abstimmungsformulars bzw. der Form, in der der Aktionär dem unabhängigen Stimmrechtsvertreter seine Weisungen erteilt, zu antizipieren. Diese muss sowohl klar und präzise sein, um einen Formfehler seitens des Aktionärs zu vermeiden, als auch ausreichend flexibel, um Änderungen der ursprünglichen Tagesordnung vorwegzunehmen. Bei börsennotierten Unternehmen ist das letztgenannte Risiko jedoch minimal, da es selten vorkommt, dass die Tagesordnung im Verlauf der Hauptversammlung geändert wird.
Dieser relativ strenge und klar definierte Rahmen wurde jedoch mit dem Inkrafttreten der COVID-19-Verordnungen und des COVID-Gesetzes erschüttert. In der Tat hat Artikel 27 der Verordnung 3 COVID-19, die bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft ist und durch Artikel 8 des COVID-Gesetzes vom 25. September 2020 bestätigt wurde, dem „Organisator“ einer Hauptversammlung jeder juristischen Person nach Schweizer Recht und sogar jeder „Gesellschaft“ erlaubt, die „Dienste“ eines unabhängigen Vertreters in Anspruch zu nehmen.
Die Unterschiede zwischen dem Rahmen der COVID-Gesetzgebung und dem des VegüV sind jedoch erheblich: (i) in der COVID-Gesetzgebung ist es der „Veranstalter“ und nicht die Generalversammlung, die den unabhängigen Vertreter wählt; (ii) in der COVID-19-Periode kann der Einsatz des unabhängigen Vertreters obligatorisch und nicht mehr nur fakultativ sein; (iii) die Kriterien für die Unabhängigkeit sind in der COVID-Gesetzgebung im Gegensatz zu den Bestimmungen des VegüV nicht spezifiziert; (iv) Die COVID-Gesetzgebung definiert nicht die Befugnisse des unabhängigen Vertreters, insbesondere bei fehlenden Weisungen oder neuen Tagesordnungspunkten; (v) Die COVID-Gesetzgebung ist offensichtlich nicht mit dem CO und dem VegüV bei Hauptversammlungen von börsennotierten Unternehmen abgestimmt, die jedoch während der COVID-19-Periode elektronisch organisiert wurden.
Die Schwierigkeiten, die durch diese Notstandsgesetzgebung aufgeworfen werden, sind also zahlreich und der Vorstand muss insbesondere die folgenden offenen Fragen entscheiden:
Aufgrund unserer Erfahrung als unabhängiger Vertreter können wir diesbezüglich folgende Ratschläge geben:
Mit dem Inkrafttreten der Revision des Aktienrechts, voraussichtlich am 1. Januar 2022, d.h. mit dem Auslaufen der Verordnung 3 COVID-19, wird diese Ausnahmeregelung ein Ende haben. Der Einsatz eines unabhängigen Vertreters wird institutionalisiert, insbesondere, wie das neue Aktienrecht vorsehen wird, bei virtuellen Hauptversammlungen oder bei Hauptversammlungen, die gleichzeitig an verschiedenen Orten, insbesondere sowohl in der Schweiz als auch im Ausland, stattfinden, oder wenn Aktionäre ihre Rechte elektronisch ausüben können. Wie der neue Artikel 701 OR vorsehen wird, kann darauf nur verzichtet werden, wenn die Statuten dies vorsehen oder wenn alle Aktionäre zustimmen, und dann auch nur, wenn die Gesellschaft nicht börsenkotiert ist.
Ohne dieses wichtige Thema abschließen zu wollen, das sich im Übrigen mit dem der Governance der Aktiengesellschaft überschneidet, empfehlen wir, um diese Unsicherheiten zu beseitigen, in Anbetracht der Tatsache, dass die COVID-Gesetzgebung bis zum 31. Dezember 2021 und vielleicht darüber hinaus anwendbar ist, in Anbetracht der Tatsache, dass das neue Aktienrecht im Jahr 2022, möglicherweise am 1. Januar 2022, in Kraft treten wird, zumindest für die Aktiengesellschaften nach Schweizer Recht, diese Fragen vorwegzunehmen, indem die Institution des unabhängigen Vertreters in den Statuten klar vorgesehen wird. Diese neuen Statutenbestimmungen könnten sinnvollerweise sowohl die Bestimmungen des neuen Aktienrechts als auch die durch die geltenden Bestimmungen des VegüV festgelegte Regelung aufnehmen. Die Anwendung dieser Verordnung hat sich im Laufe der Zeit tatsächlich bewährt. Die Institution des unabhängigen Vertreters wird also auch in Zukunft bestehen bleiben und fester Bestandteil aller Generalversammlungen von Schweizer Aktiengesellschaften sein.
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